Der Fotojournalismus, die Reportage, gilt unter vielen Foto-Kennern als die Königsdisziplin. Einer der Gründe dafür ist: Fotojournalismus, das ist vor allem Begegnung. Die Begegnung mit Situationen, die so nicht zu erwarten waren, mit völlig neuen Erfahrungen und – mit Menschen. Es ist eigentlich kein Geheimnis, dass gute Reportagen nur dann gelingen können, wenn der Fotograf sich auf sein Gegenüber einlässt. Er muss nicht alles richtig finden, was das Gegenüber tut oder sagt, aber: Er muss sich einlassen. Manchmal reicht ein Blick, manchmal muss man auch mal über seinen Schatten springen und Dinge tun, deren Folgen man nicht unbedingt absehen kann.
Die Verantwortung für die Menschen, denen man begegnet
Ein Thema, dass unter Fotojournalisten immer wieder für intensive Diskussionen sorgt (oder sorgte) ist die Wahrung der Menschenwürde bei den Menschen, die man fotografiert, vor allem, wenn sie selbst nicht absehen können, was mit dem Bild, das ich von ihnen gemacht habe, passiert. Das Bild des nackten alten Mannes war eines der ersten, die ich während des Studiums gemacht habe, in dem Wissen, ich tue das für eine große Öffentlichkeit und ich tue das, um etwas zu bewegen. Er war Bewohner (besser: Insasse) einer Langzeitstation für psychisch und seelisch kranke Männer in den 1970-Jahren. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich. Manche verurteilen mich für das Bild. Manchmal ist es die Verantwortung des Fotografen, Situationen festzuhalten, die sonst in der Öffentlichkeit nicht vorkommen würden. Die Entrechtung und Entwürdigung der Bewohner und dieses Bewohners in seinem Alltag auf der Station mussten deutlich gemacht werden, in diesem und in anderen Bildern.
Aber es ist ganz klar so, dass ich nicht nach allen Begegnungen immer mit mir zufrieden sein konnte. Einer der Momente, aus denen ich beruflich und persönlich mehr hätte machen können, war das Zusammentreffen mit einem osteuropäischen Fernfahrer, der allein am Rand eines trostlosen Gewerbegebiets vor seinem Gaskocher saß und darauf wartete, dass das Wochenende vorbei ging und er laden oder entladen konnte. Ich weiß nicht seinen Namen und ich habe ihn kaum etwas gefragt. Oft ist es Zeitmangel, in diesem Fall war es einfach so, dass ich eigentlich privat unterwegs war. (Partner von FotografInnen brauchen eine hohe Frustrationstoleranz)
Vor manchen meiner Begegnungen hatte ich Bedenken – bevor sie stattfanden, immer getreu dem Motto „Leichtsinn ist kein Mut und Vorsicht ist keine Feigheit“. Darum überlegte ich lange, bevor ich mich einer Gruppe von Wohnwagen näherte, die ich in einem veritablen Niemandsland in Glasgow entdeckte. Die Fläche um die paar Wohnwagen herum war weiträumig abgerissen, wahrscheinlich ein altes Industriegebiet. Weit und breit war sonst niemand zu sehen. Meine Neugier überwog zum Glück und als ich mich dem Areal näherte, wurde ich von einer ganzen Schar Kindern empfangen, denen man deutlich ansah, wie selten sie ein fremdes Gesicht zu sehen bekamen.
Sie waren – nun ja – nicht das, was sich der typische Wohlstandsbürger unter wohlerzogenem Nachwuchs vorstellt. Das sind so die Situationen, in denen man als Fotograf froh über ein Weitwinkel ist, denn die lieben Kleinen waren selten mehr als einen halben Meter von mir entfernt. Jede und jeder wollte auf dem Foto ganz vorn sein.
Die Unterhaltung mit ihnen gestaltete sich schwierig, es war so eine Art Englisch, das sie sprachen, aber dagegen war Schottisch noch vergleichsweise leicht zu verstehen. Immerhin gelang es mir, herauszufinden, das es einen Clan-Chief gab und sie führten mich zu ihm. Ich klopfte an seinen Wohnwagen, wurde hineingebeten und zu einer Tasse Tee eingeladen. Bei den ca. 30-50 Leuten handelte es sich um irische Travellers, wie sie sich mir vorstellen, Menschen, die ähnlich den Sinti und Roma aufgrund von Vorbehalten seit Jahrhunderten unterwegs sind. Für etwa eine Stunde schaue ich in ihr Leben hinein.
In Glasgow lebte ich einige Wochen beim Pfarrer Malcolm Cuthbertson und seiner Frau Debbie. Alle Versuche, ihn bei seiner Arbeit zu fotografieren, lehnte er mit dem Hinweis „Um mich geht’s hier nicht“ ab. Ich erlebte, wie er Ehen schloss von Menschen, die das Geld für die Heiratsurkunde nicht aufbringen konnten. Oder, wenn er Menschen auf ihrem letzten Weg begleitete, deren einziger Lebenspartner in der leeren, eiskalten Wohnung ein „Telly“, der Fernseher also war. Oder eine Spritze. Oder eine Flasche billigen Fusels.
Eine meiner eindrücklichsten Begegnungen war die mit einer alten Frau auf einer Kohlenabraumhalde in Prokopjewsk in Sibirien. Ich war mit einem Hilfskonvoi der Organisation „Cap Anamur“ hingefahren. Viel Zeit für die Vorbereitung hatte ich nicht und außer ein paar russischen Worten hatte ich nur den Satz „Ich möchte sie gern fotografieren“ auf Russisch einstudiert. Ich hatte nie den Eindruck, das ihn jemand verstanden hat. Jedenfalls wanderte ich über diese Halde Anfang Januar und da kommt mir diese Frau entgegen. Sie war quasi die Verkörperung von Mütterchen Russland, jedenfalls für mich. Ich stammelte meinen Satz, sie blieb einfach ganz ruhig vor mir stehen und ließ sich von mir fotografieren. Eine Begegnung von wenigen Minuten.
Mein russischer Satz, den in Russland offenbar nie jemand verstanden hat, kam erst ein paar Jahre später wieder zum Einsatz. Für eine Zeitschrift fotografierte ich eine ganze Strecke zum Thema Asylrecht. Wohl gemerkt, das war in den 1990er Jahren, nicht 2015. Auch damals war die Republik in Aufruhr wegen Menschen, die auf der Flucht vor Mord, Vertreibung und Armut nach Deutschland kamen. Ein kleiner Junge aus dem Irak in einer Unterkunft in Hannover fasste die Heimatlosigkeit wie in einem Brennglas zusammen.
Nachdem ich einige Menschen fotografiert hatte, meinte die betreuende Sozialarbeiterin, da wäre noch ein Afghane, er spräche aber weder Deutsch noch Englisch, nur seine Landessprache natürlich und Russisch, aber das konnte im Flüchtlingsheim auch niemand. Alles, was ich dem Mann bieten konnte, war mein leicht angestaubter russischer Satz, aber selten habe ich jemand so strahlen sehen. Von dieser Begegnung gibt es kein Foto.
Eine andere Begegnung im Rahmen dieser Reportage fand auf einem Hotelschiff in Bremen statt. Man führte mich zu den Männern, von denen ich noch weiß, das sie vom Balkan stammten. Sie lebten zu viert in einem winzigen Kabuff, in dem es brütend heiß war. Ich bekam einfach keinen Zugang zu ihnen, so schien es mir. Nur einer konnte ein wenig Englisch, ich hatte den Eindruck, sie duldeten mich nur, um keinen Ärger zu bekommen. Ich war nahe daran, aufzugeben und machte einen letzten Versuch, bat sie, sich zusammenzustellen. Das Bild illustriert die merkwürdig angespannte Situation, in der wir uns befanden.
Eine Begegnung, die schmunzeln lässt, war die mit zwei Pipeline-Schweissern in Ostwestfalen-Lippe. Für ein großes deutsches Nachrichtenmagazin machte ich Aufnahmen vom Bau einer Gaspipeline quer durch die Republik. Die Typen mit dem Helm waren hart arbeitende, irre viel Geld verdienende Männer aus aller Herren Länder, die heute in Kuwait, morgen in Alaska und übermorgen eben in der Nähe von Detmold arbeiteten. Cowboys mit Schneidbrenner sozusagen.